‘In einer Gesellschaft, in der es zum Trend geworden ist, die Hauptfigur ihrer eigenen Geschichte zu werden, frage ich mich, wer wohl eine Geschichte wie die meine lesen würde.
Müssen Hauptfiguren nicht in irgendeiner Weise spannend sein? Kann ich mit dem Leben, das ich führe oder führen möchte, überhaupt zu einer solchen Figur werden?
Lange Zeit war ich der Meinung, dass das nicht möglich sei. Ich habe von allen Seiten gehört, wie unnormal es sei, nach der Schule, der Arbeit oder an den Wochenenden am liebsten alleine sein zu wollen. Während alle anderen ihre Zeit auf Partys verbracht haben, lag ich schon lange im Bett, nachdem ich meine Freizeit mit Malen, Schreiben, Kochen, Lesen oder Musikhören verbracht hatte. Ich war immer zufrieden damit, diesem Trubel zu entkommen. Mir fehlte es an nichts. Doch wann immer mich meine Mitmenschen spöttisch danach fragten, was ich denn überhaupt tun würde, um Spaß zu haben, fing ich an, mein Leben kritisch zu hinterfragen.
Bin ich wirklich komisch? Verschwende ich meine kostbare Zeit? Wie lebt man sein Leben richtig?
Mein Herz wusste schon immer, dass es an mir und meiner Art zu leben nichts zu bezweifeln gab. Doch in meinem Kopf waren plötzlich so viele Stimmen, die nicht nach meiner eigenen klangen. Stimmen, die mir weismachen wollten, dass mein Leben in irgendeiner Weise falsch war. Und damals hatte ich nicht das Selbstbewusstsein, ihnen zu widersprechen. Und so entfernte ich mich Schritt für Schritt von der Person, die ich wirklich war. Und wurde zu jemandem, an dem es scheinbar nichts auszusetzen gab.
Rückblickend betrachtet führte ich zu dieser Zeit wohl das Leben einer klassischen Hauptfigur. Ich arbeitete erfolgreich in einem Bereich, den viele nur als Hobby betreiben, war ständig in anderen Ländern und Städten unterwegs, feierte mit meinen Freunden an den Wochenenden auf Festivals und wurde für diesen Lebensstil bewundert. Da war plötzlich niemand mehr, der mein Leben hinterfragte.
Doch egal wie sehr ich versuchte, mich von meiner Introvertiertheit zu entfernen, es wollte mir nicht gelingen. Ich wurde von Auftrag zu Auftrag, von Festival zu Festival, von Reise zu Reise müder und müder. Ich hatte mich so weit von mir entfernt, dass ich in den Momenten, in denen ich schließlich alleine war, keinerlei Kraft mehr hatte dem nachzugehen, was mich einst mit so viel Freude erfüllt hatte.
Meine Leidenschaft für meine Arbeit löste sich auf, meine Reisen wurden nur noch abgehakt, meinen Hobbies ging ich gar nicht mehr nach und tiefsinnige Gespräche mit meinen Freunden habe ich umgeben von Fremden geführt. Ich führte plötzlich ein Leben, das sich nicht mehr wie mein eigenes anfühlte.
Ich fing also wieder an, mein Leben zu hinterfragen. Doch diesmal nicht, weil die Stimmen anderer in meinem Kopf umher irrten, sondern weil ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Mein Leben sollte mich nicht müde machen. Das neue Jahr stand bevor und ich gab mir selbst ein Versprechen. Ich würde mich von jetzt an wieder mehr auf mich konzentrieren und nicht mehr einem Ideal nachlaufen, welches sowieso nie für Personen wie mich geschaffen wurde.
Dieses Versprechen ist inzwischen beinahe drei Jahre her. Seitdem habe ich mich sehr verändert. Ich kann jetzt mit Selbstbewusstsein sagen, dass ich die Hauptfigur meiner eigenen Geschichte bin. Mir ist nicht mehr wichtig, ob diese Geschichte zum Bestseller oder von nur einer einzigen Person gelesen wird. Ich verbringe den Großteil meiner Zeit alleine und widme mich wieder meinen Leidenschaften. Und auch, wenn ich die Zeit mit meinen Liebsten sehr schätze, nach wie vor unfassbar gerne mit anderen zusammenarbeite, verreise oder neue Leute kennenlerne, erlaubt mir dieses zurückgezogene Leben meine Batterien für solche Momente zu füllen.’
VANESSA KRAY